Filmreihe „Back to the Family“
Andrej Tarkowskis1 vierter Langfilm ist eine collagenartige, semiautobiografische Reflexion von Familie, Erinnerung und Kindheit. Es verweben sich Zeitebenen und Erzählstränge, ohne auf die Befindlichkeiten eines logisch handlungsorientierten Publikums Rücksicht zu nehmen. Der Film geht seinen eigenen Weg, fernab von narrativen Konventionen.
Grob lassen sich zwei Hauptebenen ausmachen, die jedoch wiederum von mehreren Perspektiven geprägt sind und von weiteren Momente, Traumbildern und Visionen durchzogen werden. Thematisch steht das Verhältnis zwischen Müttern und Söhnen mehrerer Generationen im Zentrum. Der junge Alexei und seine Mutter sowie Alexeis späterer Sohn Ignat und dessen Mutter werden von den gleichen Schauspielern gespielt, was die Parallelität der Beziehungen und ihre Relevanz für den Film unterstreicht. Alexei selbst spricht mit seiner Ex-Frau über deren Ähnlichkeit zu seiner eigenen Mutter. Zwar ist die Beziehung des Protagonisten Alexei zu seinem Sohn Ignat ebenfalls wichtig, jedoch erscheint der erwachsene Alexei nie vollständig im Bild. Seine Stimme ist immer nur aus dem Off zu hören, während die Kamera seine Gesprächspartner einfängt. Auch Alexeis Vater ist ein ständiger Referenzpunkt in den Dialogen, bleibt aber abwesend von den Geschehnissen. Damit steht er im autobiografischen Verhältnis zu Tarkowskis eigenem Vater dem Lyriker Arseni Tarkowski, dessen Gedichte im SPIEGEL rezitiert werden und der selbst im Leben des Sohnes nach der Trennung von der Mutter in dessen Kindheit kaum präsent war. Es sind die Mütter, die da sind und eine Beziehung zu ihren Söhnen aufbauen.
Bild- und Tonebene klaffen in diesem Film oft weit auseinander, wie bereits an Beispielen von wichtigen Stimmen aus dem Off belegt wurde. Diese Diskrepanzen deuten auf eine sinnliche Trennung der Wahrnehmungsmodi Sehen und Hören hin in Bezug auf die im Film motivisch untersuchte Erinnerung. Dies zeigt sich außerdem in den zwei Telefonaten, die eine wichtige Funktion in der dialogischen Reflexion einnehmen. Einmal hören wir den erwachsenen Alexei mit seiner Mutter am Telefon über örtliche Umstände seiner Kindheit sprechen und diese mit einem Traum, den er in der vergangenen Nacht hatte, in Verbindung bringen. Hier wird die Ähnlichkeit der Erscheinung von Erinnerung und Traum thematisiert, die im Geiste miteinander verschmelzen können. Als Zuschauer haben wir Ausschnitte der von Alexei beschriebenen Momente in vorangehenden Szenen zu sehen bekommen. Während dieser nun spricht, gleitet die Kamera durch die relativ spärlich eingerichteten Zimmer seiner jetzigen Wohnung und stellen somit eine Verbindung zwischen früheren und aktuellen Lebensverhältnissen her. Keiner der beiden Gesprächspartner wird in der Szene sichtbar. Das Bild wird rein von den Räumen okkupiert. In diesen Räumen sehen wir später Ignat alleine, als dieser von dort mit dem Vater Alexei telefoniert. Der Vater, nun nicht knapp neben dem Bildausschnitt sondern in einem weiter entfernteren, unbekannten Off zu verorten, stellt in seiner Rede Verbindungen zwischen dem Leben des Sohnes und seiner eigenen Kindheit her. Damit rücken die Generationen erneut näher zusammen.
Zum Ende des Films begegnen wir einem mittlerweile bettlägerigen Alexei (weiterhin ohne sein Gesicht zu sehen) umgeben von einer Gruppe von Menschen. Er suhlt sich in Schuldgefühlen seinen Liebsten gegenüber, glaubt diese im Stich gelassen und auf sozialer Ebene versagt zu haben. Diese späte Szene ordnet die Episoden des Films als reflektive Momente der Rückschau vom Sterbebett aus. Sie sind Zeugnis des monumentalen Einflusses der nächsten Menschen auf das eigene Wohlbefinden. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass auch Erlebnisse der Mutter, bei denen Alexei gar nicht dabei war, vorkommen und entsprechend ihre emotionalen Prägung für seine mitverantwortlich ist. Mutter und Sohn sind besonders eng miteinander verflochten, sodass sich sogar ihre Erinnerungen, Empfindungen und Träume miteinander verweben und untrennbar werden. Die Familie wird zum einzelnen, eigentlichen Protagonisten, untrennbar in einzelne Akteure.
1 Die Schreibweise des Regisseurs variiert in unterschiedlichen Quellen. Ich orientiere mich hier an der 2021 im Alexander Verlag erschienenen Neuausgabe seiner Schriften. Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Neuausgabe 2021. Berlin: Alexander Verlag 2021.
Zusätzliches Material zur weiteren Beschäftigung:
- Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Neuausgabe 2021. Berlin: Alexander Verlag 2021.
- Norbert M. Schmitz: Der Spiegel als Symbol. Überlegungen zur modernen Formsprache in Andrej Tarkowsijs SERKALO. In: montage/av 4/2/1995.
- Podcast-Folge des Podcasts Film Magistery: Film Magistery #8: The Mirror/Tarkovsky’s Time Sculpting

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