Filmreihe „Back to the Family“
GESPENSTER ist vielleicht der Film unserer Reihe, der in Bezug auf familiäre Beziehungen am meisten im Vagen bleibt. Wir können uns als Zuschauer nicht mal sicher sein, ob es eine Familienkonstellation im Film gibt oder nicht. Stattdessen erzählt der Film von der Potentialität einer Nähe zwischen zwei Menschen, die sich schon zu lange einsam und verloren fühlen.
Nina ist als Waise in Wohnheimen aufgewachsen. Sie ist zurückhaltend und in sich gekehrt, eckt mit der Betreuerin im Heim an. Ihr fehlt eine Bezugsperson. Nicht nur ist sie ohne Eltern aufgewachsen, auch scheint sie keine gleichaltrigen Vertrauten zu haben. Dann eröffnen sich für sie neue Hoffnungen, an denen sie sich festklammern will. Zunächst begegnet sie der selbstbewussten Toni, zu der sie sich hingezogen fühlt und sich von ihr sogar zum Diebstahl verführen lässt. Über das Bild einer Überwachungskamera sehen wir wie sich Nina durch den H&M bewegt und ihn verlässt. Diese Aufnahme ist nicht direkt narrativ begründet. Es tritt keine Figur auf, die sich die Szene ansehen würde und Nina wird nicht überführt. Dafür positioniert der Modus der Überwachungskamera die Protagonistin als Gesuchte und Blickobjekt und leitet damit gelungen über zur nächsten Szene. Als sie mit der geklauten Ware wegrennt, wird Nina von einer mittelalten Frau angehalten. Francoise, der wir als Zuschauer bereits begegnet sind, glaubt, sie erkannt zu haben und agiert nun, geht damit also einen Schritt weiter als die neutral und untätig zuschauende Überwachungskamera.
Auch das Leben von Francoise wird von einer ungestillten Sehnsucht bestimmt. Sie hat ihre Tochter durch eine Entführung verloren, als diese drei Jahre alt war. Seitdem kehrt sie immer wieder an den Tatort zurück, versucht die nun Jugendliche zu finden. Verhaftet in einer Fantasie, besessen von den Träumen der Vergangenheit, wandelt sie selbst wie ein Gespenst umher. Nun hält sie Nina für Marie.
In dem Moment der Begegnung blitzt für beide vom Leben enttäuschte Frauen kurz die Möglichkeit eines Ausweges auf. Könnte die Geschichte stimmen? Könnten sie sich vielleicht annähern und von nun an die Liebe schenken, die sie immer vermissten? Immerhin hat Nina die körperlichen Marker, die Francoise beschreibt. Toni zerstört die theoretische Harmonie, klaut Francoise ihr Portemonnaie und reißt Nina beim Wegrennen mit.
Die beiden Mädchen gehen zu einem Casting, bei dem Nina plötzlich eine elaborierte erfundene Freundschaftsgeschichte erzählt, die erneut ihre Sehnsucht nach Nähe und verbindenden Beziehungen zeigt. Bei einer Party des Regisseurs am Abend tanzen sie eng zusammen und verbringen die Nacht miteinander. Doch als Nina morgens aufwacht, ist Toni verschwunden, hat sie für den Regisseur verlassen.
Die erneute Enttäuschung durch eine Person, der sie nah gekommen war und vertraut hatte, treibt Nina zurück zum Treffpunkt mit Francoise. In ihrer Verzweiflung wünscht sie sich, dass deren Geschichte wahr ist. Sie will sie glauben und sich daraus Hoffnung schöpfen. Beide verfallen sofort in die zugeschriebenen Rollen. Francoise soll Nina nach dem Liebeskummer trösten und will sie zum Frühstück ausführen. Nina fragt Francoise nach früher aus, hört sich die Babygeschichten, die von ihr selbst erzählen sollen, an. Francoise will mit diesen die Erinnerung am Leben halten. Ob die Beziehung zwischen ihnen tatsächlich wahr ist, interessiert zu diesem Zeitpunkt keine von beiden besonders. Ihnen behagt die gefühlte Realität als Pflaster für die geschundenen Seelen.
Doch wie bei der ersten Begegnung erscheint eine andere Person, die sie trennen will. Diesmal ist es Francoises Mann Pierre, der die Harmonie zerstört. Er attestiert seiner Frau eine krankhafte Obsession und verkündet Nina, dass sie nicht die Tochter sein könne, da Marie tot sei. Ob dies sicher stimmt oder es der Abwehrmechanismus des potenziellen Vaters ist, der die Enttäuschungen des Suchens und Hoffens nicht ertragen kann, können wir als Publikum nicht wissen. Allerdings endet hier die gemeinsame Episode. Francoise lässt sich von ihm abführen, schaut nicht einmal mehr zurück auf die eben noch als Tochter geglaubte Nina. Die bleibt erneut allein zurück mit enttäuschten Hoffnungen und gescheiterten Beziehungen. Im gestohlenen Portemonnaie findet sie Phantombilder, die zeigen, wie Marie heute aussehen könnte, und ihr ziemlich ähnlichsehen. Sie lässt die Fotos fallen und geht davon.
In GESPENSTER bleiben die Familienverhältnisse auf fantasierter, theoretischer Ebene hängen und können sich nicht vollständig materialisieren. Dennoch erzählt der Film viel über die Hoffnungen, Wünsche und Bedürfnisse, die an Mutter-Tochter-Beziehungen von beiden Seiten gestellt werden können und die Folgen, wenn diese enttäuscht werden.

Schreibe einen Kommentar