AFTERSUN wurde bereits auf diesem Blog besprochen (Link). In diesem Artikel soll auf einige Aspekte in Bezug auf das Thema des aktuellen Filmzyklus „Back to the Family“ genauer eingegangen werden.
In Charlotte Wells‘ Debütfilm AFTERSUN aus dem vergangenen Jahr steht die Vater-Tochter-Beziehung zwischen Calum und Sophie im Fokus. Die beiden verbringen einen Urlaub in einem türkischen Resort. Sie stehen sich nah, haben eine allgemein gute Beziehung. Er kümmert sich fürsorglich um sie, bietet ihr eine Flucht aus dem gewöhnlichen Leben voller Schule und Streits mit ihrer Mutter an. Sie mag es, mit ihm herumzualbern und gemeinsame Rituale zu zelebrieren. Dennoch beginnen sie sich voneinander zu entfernen. Und obwohl Sophie in einem typischen Alter dafür wäre und tatsächlich ab und an lieber mit den anderen Kindern im Resort spielt oder zu den Jugendlichen aufschaut, ist diese sich anbahnende Distanzierung nicht auf ihr präpubertäres Verhalten zurückzuführen. Stattdessen ist es Calum, der ihr ausweicht. Er lässt einige ihrer Fragen unbeantwortet, will nicht mehr die gemeinsame Karaoke-Tradition fortführen, zieht sich alleine zurück.
Diese beginnende Distanzierung wird abrupt ein neues Extrem einnehmen. Der Film erzählt parallel eine zweite Zeitebene und verschränkt diese mit dem zentralen Handlungsstrang. In Sophies erwachsener Perspektive auf den Urlaub lernen wir, dass dieser der letzte gemeinsame ist. In Anbetracht von Calums unvermeidbaren Tod, erhalten kleine Momente zwischen Vater und Tochter eine ganz andere Schwere und Bedeutung für ihr familiäres Verhältnis. Sophie will sich an diesen festhalten, sie durchleuchten. Ihre Suche nach einem besseren Verständnis für ihren Vater, nun da sie sein damaliges Alter erreicht hat, bildet das zentrale Thema von AFTERSUN. Der Titel steht für den nachträglichen Umgang mit einer einschneidenden Zeit.
Zusätzlich zu den zwei klar definierten Zeitebenen des Urlaubs und von Sophie erwachsenen in ihrer Wohnung, gibt es einen Raum, in dem sich diese in einander verschränken. Sophie und Calum begegnen sich beim Tanzen im Strobolicht im gleichen Alter. Obwohl sie ihn nicht ganz erreichen kann, schafft das gemeinsame Erleben der körperlichen Ekstase des Tanzes eine besondere Nähe über Zeit, Tod und Generationen hinweg. Doch es ist nur ein Visionsraum. Was bleibt, ist die Trauer über die verpassten Jahre und den Schmerz des Vaters, den sie als Kind nicht wirklich sehen konnte. Das ist die Last des emotionalen Erbes, das Calum ihr überlassen hat. Dem gegenüber steht seine Liebe für sie, die ihr als Geschenk geblieben ist. Physisch greifbar in der Postkarte, die er ihr aus dem Urlaub geschickt hat.
Sophies Unternehmungen sind der Versuch, sich an Bildern und Videos als physischen Artefakten der Erinnerung festzuhalten. Dabei ergänzt sie die gesehenen Bilder und innerlich bewahrten Gedankenfetzen durch ihre mittlerweile erweiterte Perspektive. Nicht nur hat sie eine größere emotionale Reife und allgemeine Lebenserfahrung, sie ist außerdem selbst Mutter geworden. Die eigene Elternschaft rückt die der eigenen Eltern in eine andere Perspektive, ein neues Licht.
Zusätzliches Material zur weiteren Beschäftigung:
- Mubi-Notebook Interview mit Charlotte Wells: „The Distance in Your Eyes: Charlotte Wells Discusses „Aftersun““
- YouTube-Video von The Oscar Expert: „Why Aftersun Is A Masterpiece“
- Podcast-Folge von Script Away: Aftersun with Charlotte Wells
- Podcast-Folge des MUBI Podcast: In AFTERSUN, Charlotte Wells lets Queen and Bowie tell the story
- Podcast-Folge des Directors UK Podcast: Aftersun: Charlotte Wells in conversation with Barry Jenkins

Schreibe einen Kommentar