AFTERSUN (US, GB 2022, R: Charlotte Wells): Ein Film wie ein Polaroidfoto

Behutsam und ergreifend zugleich nähert sich AFTERSUN einer Vater-Tochter-Beziehung auf zwei Zeitebenen und tastet sich dabei an die Auswirkungen unbedeutend scheinender Alltagsmomente heran. Es stellen sich Fragen nach Erinnerung und emotionalem Erbe, die uns auch lange nach dem Kinobesuch nicht verlassen.

Das Bild flackert. Eine junge Frau erscheint kurz und verschwindet wieder. Sie steht im blauen Pullover in einer tanzenden Menge und blickt in die Kamera, umhüllt von Dunkelheit. Wir bekommen sie kaum zu fassen, erhaschen nur kurz ihre schwer zu deutende Miene. So beginnt AFTERSUN.

Der Film, welcher in den letzten Wochen auf zahlreichen Endjahresbestenlisten auftauchte, behandelt die Wirkungsweisen menschlicher Erinnerung in bisher kaum dagewesener Weise. Er macht sie sicht-, hör- und fühlbar. Der schottischen Regisseurin Charlotte Wells ist mit ihrem Debütfilm ein großer filmischer, erzählerischer und philosophischer Erfolg gelungen.

Die elfjährige Sophie ist mit ihrem jungen Vater Calum im Urlaub. Sie verbringen eine Woche in einem türkischen Resort. Sie treiben durch die Tage, liegen am Pool, gehen Essen, machen Ausflüge, albern herum und reden meist belanglos miteinander. Die Zeit ist, wie man es aus dem Urlaub kennt, scheinbar eingefroren. Die Außenwelt des gewöhnlichen Alltags dringt nicht an sie heran.

Und dann gibt es immer wieder Sequenzen wie die erste. Die Frau wirkt verloren, scheint auf der Suche, versucht, sich zu etwas durchzukämpfen. Dann ist Callum im selben Alter wie im Urlaub in der Menge zu sehen. Die Frau, die sich als erwachsene Sophie herausstellt, versucht ihn zu erreichen, aber schafft es nicht. Dabei blitzen die Bilder im flackernden Licht auf und erlöschen. Sie symbolisieren die unbestimmte Durchlässigkeit der kaum greifbaren Erinnerung, die sich im Kopf fortlaufend wandelt und dabei Leerstellen lässt, die wir durch andere Bilder oder Gedanken ergänzen. Es sind kurze Szenen, die sich als Rahmen um die Handlung in der Türkeilegen.

Der Urlaub wird aus den Augen der elfjährigen Sophie mit der Perspektive der erwachsenen Sophie geschildert. Wir blicken mit ihr durch den Camcorder und in der Zukunft auf den Fernseher auf Calum. Diese Zeitdokumente geben den Ausgangspunkt von Sophies Erinnerung, an ihnen hangelt sie sich entlang. Sie ist auf der Suche nach etwas, versucht ihn mit ihrer älteren Perspektive zu verstehen. Aber Calum kann nicht mehr gefragt werden. Die Aufnahmen sind das letzte was sie von ihm hat, neben dem Teppich, den er im Urlaub gekauft hat, und einer Postkarte, die er ihr geschickt hat, mit einer kurzen Nachricht: „Sophie I love you. Never forget that.“

Die Elfjährige hat ihren Urlaub genossen. Endlich länger mal weg von der Schule, von ihrer Mutter, mit der sie sich nicht immer gut versteht, und viel Zeit verbringen mit ihrem coolen, jungen Vater, der für einen Bruder gehalten wird. Nur seine „Ninja Moves“ (wie sie sein Tai Chi nennt,) stören sie. Und dass er nicht die Tradition fortsetzen und mit ihr Karaoke singen will. Also geht sie alleine nach vorne auf die Bühne vor die anderen Touristen und singt isoliert, melancholisch „Losing my Religion“ in einer unvergesslichen Szene. Vater und Tochter trennen sich nach einem Streit. Beide wandern durch die Nacht, es tut sich eine Distanz zwischen ihnen auf. Die erwachsene Sophie ergänzt ihre Erinnerungen durch alleinige Momente des Vaters. Was könnte er gemacht haben, während sie am Pool ihren ersten Kuss hatte? Wie war es, als er seine Armschiene im Bad abgenommen hat? Und was hat ihn wohl im Teppichladen beschäftigt? Der Urlaub scheint wie ein Polaroid-Schnappschuss, bei dem es etwas dauert, bis das Bild sichtbar wird.

Erinnerung ist subjektiv und wandelbar. Der Moment des Rückblicks prägt sie ebenso sehr wieder der zu erinnernde Moment selbst. Was sich als Kind wie einer von vielen Sommerurlauben an anonymen Orten zwischen den Schuljahren anfühlt, kann mit zeitlicher Distanz durch die Umstände zu einem monumentalen Einschnitt werden, den man rückwirkend gerne mehr wertgeschätzt hätte.

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