Dieser Artikel untersucht die Mindgame Movies in Christopher Nolans Werk und ordnet ihn als einen der einflussreichsten Regisseure dieser filmischen Tendenz ein.
Teil der Filmreihe Christopher Nolan
Einige der Filme im Werk von Christopher Nolan können als mindgame movies[1] verstanden werden. Der Regisseur gilt neben David Fincher als „most prominent and certainly the most successful filmmaker[…] to direct (and often write) mind-game films.“[2] Obwohl der Begriff in der Filmwissenschaft noch nicht besonders weit verbreitet ist, beschreibt er eine Tendenz in Nolans filmischen Schaffens, die, selbst wenn man sie nicht auf diese Weise beschreiben möchte, besonders auffällig und relevant für sein filmisches Schaffen ist. Daher möchte ich in dieser Filmreihe einen besonderen Fokus auf die mindgame movies legen. Dieser Artikel soll einen Einstieg bieten, einen Überblick zum Begriff und den allgemeinen Charakteristika der gemeinten Filme geben und beschäftigt sich dann spezifisch mit Nolans mindgame movies.
Zum Begriff
Der Begriff der mindgame movies wurde 2009 von Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser in seinem Buch „Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino“ eingeführt und beschreibt eine Gruppe von Filmen, die ihre „Zuschauer auf mehreren Ebenen gleichzeitig“[3] mit einbeziehen. Die mindgame movies sind in erster Linie „Filme, in denen mit einer Figur [und] Filme, bei denen mit dem Publikum ein Spiel getrieben wird.“[4] Dabei werden sowohl Publikum als auch Figur lange im Dunkeln gelassen, Informationen zurückgehalten. Als Beispiele führt Elsaesser etwa THE TRUMAN SHOW (USA 1998, R: Peter Weir), FIGHT CLUB (USA 1999, R: David Fincher), THE SIXTH SENSE (USA 1999, R: M. Night Shyamalan), MEMENTO (USA 2000, R: Christopher Nolan) und MULLHOLLAND DRIVE (USA 2001, R: David Lynch) an. Durch den Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Essays enden die Beispiele Mitte der 2000er-Jahre. Jedoch lassen sich auch viele neuere Beispiele finden, die Elsaesser teilweise selbst in späteren Aufsätzen besprochen hat. 2021 erschien posthum nach seinem Tod 2019 das Buch „The Mind-Game Film. Distributed Agency, Time Travel and Productive Pathology“, das seine Aufsätze zum Thema bündelt.
Merkmale der mindgame movies
Die mindgame movies weisen häufig eine gewisse Nähe zu bestehenden Genres wie Horror, Science Fiction, dem Detektivfilm, dem Film Noir[5] und dem Paranoiafilm[6] auf. Allerdings sollten sie eher als eine Gruppe von Filmen, eine Tendenz oder ein Zeitgeist-Phänomen gesehen werden, da ihre Merkmale zu facettenreich sind, um sie als Genre zu verstehen.[7] Außerdem sind diese Begriffe auch sinnvoll, um ihre großen Fangemeinden, zuweilen auch ihren Kultstatus und das gleichzeitig hohe Interesse von Philosophen, Soziologen und Journalisten an ihnen zu erklären.[8]
Die Filme operieren mit verschiedenen Werkzeugen der komplexen Narration. So finden etwa multiple Zeitlinien (MULLHOLLAND DRIVE), unzuverlässige Erzähler (THE USUAL SUSPECTS [USA 1995, R: Bryan Singer]) oder nicht-lineare Erzählkonstruktionen (MEMENTO) Verwendung. Hinzu kommen solche Sequenzen, die bei Henry Taylor „Neuro-Bilder“[9] heißen, „die im Film einem geistig verstörten Protagonisten zugeordnet sind“[10], wodurch (innerdiegetische) Realität und Imagination verschwimmen. Damit haben diese Filme eine Desorientierung der Zuschauer zum Ziel. Doch gerade diese rätselhaften Konstruktionen und die plot twists, die irrtümliche Prämissen aufdecken, begeistern das Publikum. Elsaesser zitiert dazu den Kommentar eines Fans: „Du willst dieses fette, saftige, gehirnzerberstende ‚Oh-mein-Gott-alles-ist-anders‘-Gefühl.“[11]
Wie bereits angedeutet, widmen sich viele der Filme thematisch Figuren, die an psychischen Krankheiten wie Schizophrenie (A BEAUTIFUL MIND [USA 2001, R: Ron Howard], DONNIE DARKO [USA 2001, R: Richard Kelly]), Amnesie (MEMENTO, MULLHOLLAND DRIVE) und Paranoia (FLIGHTPLAN [USA 2005, R: Robert Schwentke], THE FORGOTTEN [USA 2004, R: Joseph Ruben]) leiden. Andere hingegen spielen mit der Realitätswahrnehmung von Charakteren, die bei vollem Verstand sind (THE GAME [USA 1997, R: David Fincher], THE TRUMAN SHOW). Dies ist eine Unterscheidung, die Philipp Schmerheim anbringt, und für ihn hohe Relevanz hat, da sich letztere auch den von ihm untersuchten scepticism films zuordnen lassen.[12]
Nolans mindgame movies
Nachdem wir nun eine grobe Vorstellung des Begriffs der mindgame movies haben, wenden wir uns jetzt den Filmen in Nolans Werk zu, die dieser Tendenz zugeordnet werden können. Dabei passen einige Filme klarer zu den Merkmalen der filmischen Tendenz, während andere mit weniger Aspekten übereinstimmen. Allgemein folgen seine Filme Mustern, die man auch bei anderen mindgame movies beobachten kann. So sind seine Protagonisten immer männlich und haben oft einen sidekick, der mehr oder weniger vertrauenswürdig erscheint. Zudem ist die Zuverlässigkeit des love interest meist in Frage zu stellen. Die Rolle kann oft auch als Femme Fatale Figur gelesen werden.
MEMENTO (US 2000)
MEMENTO ist eines der Paradebeispiele für mindgame movies und zwar nicht nur im Werk von Christopher Nolan. Der Film wird allgemein gerne herangezogen, um das Phänomen zu erklären. Er zeichnet sich durch eine besonders komplexe Erzählstruktur aus, in der nach jeder Szene zwischen zwei Schienen gewechselt wird. Der eine Strang geht auf der Zeitachse rückwärts zurück, der andere erzählt chronologisch und ist durch schwarz-weiße Aufnahmen gekennzeichnet. Diese äußerst ungewöhnliche Struktur muss vom Zuschauer erstmal erkannt und dann immer wieder neu interpretiert werden. Es wird also eine erhöhte Eigenleistung durch Rekonstruktion des Geschehens vom Publikum gefordert. Die vollständigen Zusammenhänge werden erst bei einer zweiten oder dritten Sichtung erfasst.
Doch neben diesem formalen Spiel mit dem Publikum, liefert der Protagonist auch in sich einige Anlässe zur Verwirrung. Leonard Shelby leidet an einer Kondition, durch die er keine neuen Erinnerungen machen kann. Alle paar Minuten vergisst er die letzten Geschehnisse. Dadurch stellt er sich sowohl als Hauptfigur heraus, die selbst in einer Art Spiel gefangen ist, dessen Bedingung sein vergangenes Ich für den visierten Rachefeldzug gesteckt hat, die sein aktuelles Ich aber nicht mehr klar zuordnen kann. Gleichzeitig erscheint er durch seine besonderen Voraussetzungen dem Publikum als unzuverlässige Quelle, dessen Perspektive den Film bestimmt, der wir allerdings kaum trauen können.
Im Buch „Hollywood heute“ hat Elsaeesser MEMENTO nicht nur dem mindgame movie zugeordnet, sondern auch in einem anderen Kapitel als Beispiel für ein postmodernes „post mortem“-Kino diskutiert.[13] In dieser Lesart wird Leonard als „jemand, der seinen eigenen (das heißt zumindest seinen symbolischen) Tod irgendwie überlebt hat und trotzdem irgendwie weitermacht“[14], verstanden. Die Entschlüsselung dieser Umstände kann als weiteres Merkmal der mindgame movie Qualitäten des Films gesehen werden.
In einer Zeit lange vor der Streaming-Dominanz schuf MEMENTO besondere Anreize für den Kauf einer DVD. Im Menü bietet diese die versteckte Funktion, den Film in chronologischer Reihenfolge zu sehen und damit seinen Geheimnissen auf die Schliche zu kommen.
INCEPTION (US, UK 2010)
Der Protagonist in INCEPTION, Leonardo DiCaprios Cobb, ist sich den Regeln seiner Welt grundsätzlich bewusst. Er ist sogar ein Experte dafür und erklärt sie mehrmals anderen Personen und damit auch dem Publikum. Diese Bedingungen sind äußerst komplex und das Publikum braucht für ein Verständnis sowohl der Grundlagen als auch für die finale Auflösung meist etwas länger oder auch mehrere Sichtungen. Im Verlauf der Handlung wird Cobb allerdings psychisch labiler und beginnt an seiner Umgebung zu zweifeln. Er gibt seiner Sehnsucht nach und verliert zeitweise die Fähigkeit zu trennen, was real und was geträumt ist. Das Publikum wird davon ebenfalls verunsichert. Bei allgemein verdrehten Bildern wird es immer schwieriger zu entziffern auf welcher Realitätsebene sie sich einordnen lassen.
Die Traumwelten durch die sich das Team um Cobb bewegt, geraten mit der Zeit auf natürliche Weise ins Wanken. Es entsteht großer Zeitdruck und der Versuch rechtzeitig zu entkommen, mündet in einer videospielartigen Fluchtbewegung. In sich drehenden Hotelfluren und auf ruckelnden Eisbergen kämpfen die Protagonisten mental und physisch um Halt.
INTERSTELLAR (US 2014)
Nolans nächstes mindgame movie hatte wieder eine deutlich festere Bindung in der natürlichen Welt und eine wissenschaftliche Basis für die Freiheiten, die sich die Geschichte nimmt. Dennoch präsentiert sich die filmische Welt von INTERSTELLAR als komplexes Puzzle, das es erst zu entschlüsseln gilt. Protagonist Cooper und die Zuschauer brauchen dafür fast die gesamte Spieldauer. Letztlich stellt sich heraus, dass es kein fremdes Volk oder eine geheime Macht ist, die mit Cooper und seiner Tochter im Farmhaus kommuniziert, sondern Menschen beziehungsweise sogar Cooper selbst, der lediglich Methoden verwendet, deren Möglichkeiten noch nicht entdeckt wurden.
INTERSTELLAR ist ein weniger deutliches mindgame movie als die bisher besprochenen. Der Protagonist ist sich hier seiner Umgebung und seiner Psyche durchgehend ziemlich sicher. Allerdings entpuppt sich Michael Caines Professor Brand zum Ende seines Lebens als weniger vertrauensvoll als gedacht und verändert die Spielbedingungen für den weiteren Verlauf des Films drastisch.
TENET (US 2020)
Der jüngste Film des Regisseurs erhielt seine nach Erscheinen etwas gemischte Rezeption unter anderem, da einige Kritiker seine Prämisse zu komplex fanden, Schwierigkeiten beklagten, dem Stoff zu folgen und eine emotionale Untermauerung des Stoffs vermissten. Selbst wenn man TENETs Grundidee der Inventierung begriffen hat, wirft sie immer wieder unerwartete Konsequenzen auf oder wird durch die Umstände zu einem schwer überblickbaren Rätsel, das wieder neu zu entschlüsseln ist.
Hilfreich ist dabei, dass wir als Publikum diese Welt gemeinsam mit dem Protagonisten erkunden, der selbst erst im Laufe des Films, ihre ganzen Ebenen kennen lernt. Tatsächlich erfahren wir über ihn als einzigen nicht verwitweten der besprochenen Protagonisten am wenigsten, was seine Motivationen und den biografischen Hintergrund betrifft. Tatsächlich liegt in diesem Film anders als bei den anderen dreien der Fokus viel mehr auf der Verwirrung des Publikums als bei der Schaffung eines Labyrinths für die Hauptfigur. Die Bedingungen der Inventierung schaffen genug mindgame Potenzial und erfordern keine weitere psychische Ebene.
TENET zeigt anschaulich den Reiz eines monumentalen mindgame movies. Die komplexe, herausfordernde Struktur, die Nolan in großen, mächtigen Kinobildern einfängt, bieten ein großes Publikumspotenzial, insbesondere nach Nolans vergangenen Erfolgen, die gewisse Erwartungen bei den Zuschauern geschürt haben. Dadurch wurde der Film 2020 als große Hoffnung für die Wiedereröffnung der Kinos nach einer monatelangen Corona-Schließzeit gehandelt. TENET sollte als einer der ganz wenigen angekündigten Blockbuster die Massen anziehen. In Deutschland schaffte er es zum zweiterfolgreichsten Film des Jahres zu werden.
Fazit
Das Phänomen des mindgame movies kommt im filmischen Werk Christopher Nolans zu einigen seiner Höhepunkte. Diese Filme machen zu einem großen Teil seinen heutigen Ruf aus. Sie stellen Herausforderungen an das Publikum, dessen Entschlüsselung mit das filmische Vergnügen ausmacht. Auch die meisten der hier nicht genannten Filme beinhalten Verwirrungselemente und sind komplexer erzählt als vergleichbare Filme von Regiekollegen. Das mindgame movie stellt also eine äußerst wichtige Säule in der Rezeption von Christopher Nolans Werks dar und sollte in Analysen nicht übersehen werden.
[1] In diesem Artikel wird Thomas Elsaessers Schreibweise (klein und kursiv) der mindgame movies im Aufsatz, in dem er den Begriff geprägt hat (Thomas Elsaesser: Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino. 1. Auflage Berlin 2009. S. 237-263), übernommen.
[2] Elsaesser: The Mind-Game Film. Distributed Agency, Time Travel and Productive Pathology. New York 2021, S. 270.
[3] Elsaesser 2009, S. 237.
[4] Ebd., S. 237-238.
[5] Vgl. Elsaesser 2009, S. 240.
[6] Vgl. Henry M. Taylor: Mind-Games: Metafiktion und die ontologische Verschwörung. In: Ders.: Conspiracy! Theorie und Geschichte des Paranoiafilms. Marburg 2018.
[7] Vgl. Elsaesser 2009, S. 237.
[8] Vgl. Ebd., S. 262.
[9] Taylor 2018, S. 445.
[10] Thomas Elsaesser / Malte Hagener (Hrsg.): Filmtheorie zur Einführung. 4. Überarbeitete Auflage Hamburg 2013 (2007). S. 194.
[11] Elsaesser 2009, S. 241.
[12] Vgl. Philipp Schmerheim: Scepticism Films: Knowing and Doubting the World in Contemporary Cinema. London 2016. S. 196.
[13] Vgl. Elsaesser 2009, S. 217-226.
[14] Elsaesser 2009, S. 217.

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