Back to the Family: THE LOST DAUGHTER (GR, US, UK, IL 2021, R: Maggie Gyllenhaal)

Filmreihe „Back to the Family“

Leda schält eine Orange. Behutsam, um die Schale nicht zu zertrennen. „Peel it like a snake“, raunen die Töchter, feuern sie damit fast an, während sie fasziniert auf die immer länger werdende Orangenschalenschlange schauen, die in Kreiseln hinabfällt. Es ist ein wohl einstudiertes Ritual, eine vertraute Praxis, die Mutter und Kinder verbindet. Und doch sind es nur kurze Momente während einer Mutterschaft, die sich für Leda meist eher wie ein Kampf oder eine erdrückende Last anfühlt. Die Auswirkungen dieses Frustes der Jahre mit den jungen Kindern werden sie noch lange prägen.

Maggie Gyllenhaals Regiedebüt THE LOST DAUGHTER zeichnet ein komplexes Bild von Mutterschaft. Als erster Film unserer Reihe bleibt er allein bei der Perspektive der Mutter, erzählt die Geschichte von Leda allerdings in zwei Zeitebenen. Jessie Buckley und Olivia Coleman spielen die selbstbewusste, mysteriöse Frau beide fantastisch und übernehmen ähnliche Gestik und Mimik voneinander.

Der deutsche Verleihtitel FRAU IM DUNKELN, hebt Ledas Geheimnisse und ihre abseitige Position im Umfeld hervor und spart dafür die Familiendimension des Originaltitels aus. Die darin angesprochene „verlorene Tochter“ ist auf mehrere Ebenen zu beziehen. Da wäre zum einen Ninas Tochter Elena, die am Strand verschwindet und von Leda gefunden und zurückgebracht wird. Aus dieser Situation entwickelt sich eine neuerliche Nähe zwischen Leda und Nina, die in ihrer Dankbarkeit eine Verbundenheit zu der älteren Frau entdeckt, die ein ähnliches Verständnis von Mutterschaft zu haben scheint. Leda, nun älter und lebenserfahrener entdeckt in Nina sich selbst, als sie sich ebenfalls als Mutter junger Töchter überfordert fühlte. Zum anderen kann die Verlorenheit auf Ledas Töchter bezogen werden, die sie als junge Mutter für einige Jahre verließ, als die Verantwortung zu schwer und der Wunsch nach beruflicher Erfüllung und Persönlichkeitsentwicklung abseits der Mutterschafft zu groß wurden. Die damalige Entscheidung verfolgt Leda bis in ihren Urlaub Jahrzehnte später, wo sie die Puppe (eine weitere verlorene Tochter) des kleinen Mädchens stiehlt, sich um diese kümmert, um damit anscheinend den früheren Verlust emotional auszugleichen. Schließlich ist auch Leda selbst eine verlorene Tochter, die vom Weg abgekommen ist und in ihrer Pflege der Puppe in die Verhaltensmuster der eigenen Kindheit zurückfällt.

Der Urlaub als Katalysator für das Trauma ist ein Motiv, dass wir bereits bei AFTERSUN gesehen haben. Während Leda am Strand liegen und sich erholen will, kommen die Erinnerungen wie Wellen über sie. Und dann ist da Nina, die sie vor Faszination kaum aus den Augen lassen kann. Sie liegen eine Generation auseinander, haben unterschiedliche Erfahrungsstände und doch ist da eine Nähe. Beide fühlen sich in ihrer Mutterschaft von niemandem verstanden, vor allem nicht von den Männern in ihrem Umfeld. Leda beschreibt sich selbst etwa als „unnatural mother“. Aber den drastischen Schritt, den sie gegangen ist, kann selbst Nina nicht nachvollziehen. Sie will sich befreien von dieser seltsamen Frau, die sich ihr aufgedrängt und die Puppe ihrer Tochter gestohlen hat. Sie sticht Leda mit einer Nadel in den Bauch und lässt sie zurück. Damit ist der Urlaub beendet, Leda nimmt ihr Gepäck und geht. Am Strand bricht sie zusammen. Morgens erwacht sie zu einem Anruf ihrer erwachsenen Töchter. In dieser letzten Szene erfahren wir, dass sie immer noch eine Beziehung zu ihnen hat. Details dazu lernen wir nicht kennen, aber Leda scheint im turbulenten Urlaub ihren Frieden mit ihrer Vergangenheit gefunden zu haben. Während sie am Strand sitzt und ihren Töchtern zuhört, schält sie erneut eine Orange. Sie legt wie eine Schlange ihre Haut ab, bereit für einen Neubeginn.


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